Hautnah – Die somatische Wahrnehmung als Tor zur Aussenwelt

Veröffentlicht am: 20. September 2025|

Stell dir vor, du gehst an einem klaren Herbsttag Hand in Hand mit deinem Lieblingsmenschen durch den Wald. Die Blätter haben ihr Grün fast verloren, sie leuchten nun in warmen Gelb- und Rottönen. Bei jedem Schritt raschelt es unter euren Füßen, während die Sonne durch das Blätterdach bricht und helle Flecken auf eure Haut malt.

In diesem Moment geschieht viel mehr, als es zunächst scheint: Die Wärme der Hand deines Gegenübers vermittelt Nähe und Sicherheit. Die kühle Luft auf deiner Haut erinnert dich an die Jahreszeit, der Duft von feuchtem Laub verstärkt das Gefühl, mitten in der Natur zu sein. Zugleich spürst du auch dein Inneres – den gleichmäßigen Rhythmus deines Atems, den Herzschlag, der sich in der Brust bemerkbar macht, vielleicht sogar eine Welle von Ruhe oder Geborgenheit, die dich durchströmt.

Hier zeigt sich die Kraft der somatischen Wahrnehmung: Sie verbindet uns nicht nur mit der Umwelt, sondern auch mit anderen Menschen – und mit uns selbst.

Warum berühren uns Wärme, Kälte oder der Druck einer Hand so unmittelbar – und weshalb sind sie für unser körperliches wie psychisches Wohlbefinden so entscheidend?


Die Haut – unser größtes Sinnesorgan

Die Haut ist mit einer Fläche von bis zu zwei Quadratmetern und Milliarden von Sinneszellen das größte Organ des Menschen. Sie schützt uns nicht nur vor Umwelteinflüssen, sondern ist zugleich hochsensibel:

  • Mechanorezeptoren registrieren Druck, Vibration und Streicheln.

  • Thermorezeptoren unterscheiden zwischen Wärme und Kälte.

  • Nozizeptoren warnen uns durch Schmerz vor Gefahr.

Diese Informationen werden in Bruchteilen von Sekunden über Nervenbahnen an das Rückenmark und Gehirn weitergeleitet. Dort verschmelzen sie mit anderen Eindrücken – und prägen so unser Körperbild, unser Sicherheitsgefühl und unser Wohlbefinden.

Doch Berührung beeinflusst nicht nur unser körperliches Erleben, sondern auch unsere sozialen Beziehungen. Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme beschreibt in ihrem Buch Human Touch – Warum körperliche Nähe so wichtig ist den sogenannten Midas-Effekt: Bereits eine kurze, unbewusste Berührung – etwa ein Streifen am Arm – kann dazu führen, dass wir unserem Gegenüber mehr Vertrauen schenken oder offener reagieren. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen in solchen Situationen eher kooperieren, großzügiger sind oder sich besser verstanden fühlen.

Der somatische Sinn wirkt also wie eine soziale Brücke: Er verbindet Körper und Psyche, Schutz und Nähe, Eigenes und Fremdes – und macht sichtbar, wie sehr Berührung unser psychisches Wohlbefinden beeinflusst.


Redewendungen – Sprache der Haut

„Etwas am eigenen Leib erfahren.“
„Das geht mir unter die Haut.“
„Gänsehaut bekommen.“

Unsere Alltagssprache zeigt, wie eng Berührung und Fühlen mit Emotionen, Schutz und Nähe verbunden sind. Die Haut ist damit nicht nur ein körperliches Sinnesorgan, sondern auch ein Medium für Gefühle, Erinnerungen und zwischenmenschliche Bindung.

Neurowissenschaftlich lässt sich das durch die sogenannten C-taktilen Fasern erklären. Diese speziellen Nervenfasern reagieren besonders auf sanfte, langsame Berührungen – wie ein Streicheln oder eine tröstende Handbewegung. Sie leiten die Reize direkt in jene Hirnregionen, die für Emotion und Erinnerung zuständig sind. Deshalb können uns bestimmte Berührungen tief berühren, Trost spenden oder Geborgenheit hervorrufen – ganz so, wie es unsere Redewendungen ausdrücken.


Berührung als Stresspuffer – wenn die Haut Geborgenheit schenkt

Neurowissenschaftliche Forschung zeigt: Berührung reduziert Stress messbar. Wenn wir sanft berührt oder umarmt werden, schüttet unser Körper vermehrt Endorphine und Oxytocin aus – Botenstoffe, die beruhigen, Angst dämpfen und Vertrauen fördern. Gleichzeitig sinkt der Spiegel des Stresshormons Cortisol.

Das bedeutet: Berührung ist weit mehr als ein Sinneseindruck – sie wirkt wie ein natürliches „Beruhigungsmittel“, das uns innerlich stabilisiert.

Erinnern wir uns an den Herbstspaziergang vom Anfang: Hand in Hand durch den Wald, das Rascheln der Blätter, die Sonne auf der Haut. Die Wärme der Berührung ist nicht nur angenehm – sie wirkt direkt auf unser Nervensystem, vermittelt Sicherheit und lässt Anspannung abfallen. Solche Momente sind kleine, aber kraftvolle Quellen für das körperliche und psychische Gleichgewicht.


Berührung im Alltag – Basale Stimulation als Brücke

Im Konzept der Basalen Stimulation ist die bewusste Gestaltung von Berührung ein zentrales Element. Sie dient nicht nur der Körperpflege oder medizinischen Versorgung, sondern ermöglicht Menschen, ihren Körper wahrzunehmen, Sicherheit zu erfahren und Beziehungen aufzubauen.

Im Alltag zeigt sich: Ein sanftes Eincremen, das Halten einer Hand oder rhythmische Bewegungen beim Positionieren können beruhigen, Orientierung geben und Vertrauen aufbauen. Solche Handlungen wirken über die Haut direkt auf das Nervensystem – sie reduzieren Stress, vermitteln Geborgenheit und fördern das Wohlbefinden.

Wirkungsvoll eingesetzt werden solche Momente, wenn die Berührungsqualitäten bewusst berücksichtigt werden:

  • ein klarer Anfang und Abschluss,

  • ein spürbarer, aber angepasster Druck,

  • ein verlässlicher Rhythmus,

  • wohltuende Wärme,

  • die bewusste Gestaltung von Fläche und Kontakt halten.

Es geht nicht um die Technik allein, doch sie bildet die Grundlage für gelingende Begegnung. Erst wenn Anfang und Ende klar gesetzt, Druck und Rhythmus bewusst gestaltet sowie Fläche, Wärme und Kontakt verlässlich gehalten werden, entsteht der Rahmen für Sicherheit. Innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich der Dialog über die Haut: Achtsame, klare und respektvolle Berührungen lassen Menschen erleben, dass sie spürbar sind, dass ihre Grenzen wahrgenommen werden und dass Beziehung möglich ist – auch dort, wo Worte fehlen.


Zum Schluss – eine kleine Selbsterfahrung

Schließe nun für einen Moment die Augen und streiche langsam mit deiner Hand über verschiedene Oberflächen in deiner Nähe – vielleicht über den Tisch, deinen Pullover, ein Stück Papier oder deine eigene Haut. Spüre Unterschiede: rau und glatt, kühl und warm, weich und fest.

Wechsle dann die Perspektive: Lege deine Hand ruhig auf eine Oberfläche und lass sie einfach liegen. Nimm wahr, wie sich der Kontakt verändert, je länger du ihn hältst – vielleicht wirst du feiner, wärmer, ruhiger.

Zum Abschluss berühre bewusst etwas, das für dich eine Bedeutung hat – ein vertrauter Gegenstand, ein Stofftier aus der Kindheit oder die Hand eines vertrauten Menschen. Achte darauf, welche Gefühle, Erinnerungen oder Bilder auftauchen.

So wird erfahrbar, dass der somatische Sinn weit mehr ist als bloße Wahrnehmung. Er ist eine Einladung, mit der Welt in Resonanz zu treten – über Berührung, über Haut, über Nähe.


Quellenverzeichnis

  • Bienstein, C. & Fröhlich, A. (2021). Basale Stimulation in der Pflege. Die Grundlagen. Hogrefe Verlag.
  • Böhme, R. (2020). Human Touch – Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Ullstein Verlag.
  • Field, T. (2010). Touch for socioemotional and physical well-being: A review. Developmental Review, 30(4), 367–383.
  • Guéguen, N. (2004). The effect of a tactile contact on compliance with a request in a field setting. Journal of Social Psychology, 144(4), 433–435.
  • Löken, L. S., Wessberg, J., McGlone, F., & Olausson, H. (2009). Coding of pleasant touch by unmyelinated afferents in humans. Nature Neuroscience, 12(5), 547–548.
  • McGlone, F., Wessberg, J., & Olausson, H. (2014). Discriminative and affective touch: Sensing and feeling. Neuron, 82(4), 737–755.
  • Uvnäs-Moberg, K. (1998). Oxytocin may mediate the benefits of positive social interaction and emotions. Psychoneuroendocrinology, 23(8), 819–835.

Text: Rena Ruedin