Wenn Kinder mit Behinderung nicht mehr zur Schule gehen (können)

Letztes Jahr erschien in der TAZ der Artikel Kein Recht auf Schule, der den Gründer unseres Konzepts, Prof. Dr. Fröhlich, alarmierte. In dem Text geht es um Berliner Kinder, die aufgrund ihrer Behinderung unbeschult bleiben bzw. immer wieder vom Unterricht ausgeschlossen werden. Die Gründe dafür liegen – kurz aus dem Artikel zusammengefasst – an Personalmangel bzw. einem Mangel an passend ausgebildetem Personal, an den bestehenden Strukturen, aber auch an Diskriminierung und dem Fehlen eines politischen Willens zur Verbesserung/Veränderung.
Prof. Fröhlich war sehr betroffen von diesem Artikel. Er nahm daraufhin Kontakt mit einer der Autorinnen auf und schrieb Kolleg:innen aus dem Basalen Umfeld an, um von ihren Erfahrungen (auch in anderen Bundesländern) zu hören. Die Antworten, die er hielt, malten ein wenig erfreuliches Bild.
Prof. Fröhlich schreibt an uns: „Ich schicke Ihnen den Versuch einer Ergebniszusammenfassung. Natürlich ist das im Sinne statistischer Sozialforschung nicht aussagekräftig, aber ich denke schon, dass die angeschriebenen Expertinnen und Experten einige relevante Punkte ansprechen, die man ernst nehmen sollte. Meine Besorgtheit ist gestiegen, ich bin in hohem Maße beunruhigt.“
Wir als Verein teilen seine Meinung und sehen dringenden Handlungsbedarf!
Dies ist Prof. Fröhlichs Zusammenfassung:
Fast alle Befragten beschreiben eine zunehmende Zahl von Kindern mit schweren oder mehrfachen Behinderungen, die nicht oder nur unregelmäßig beschult werden. Die Ursachen liegen weniger im Willen der Schulen, sondern in fehlendem Personal, organisatorischen Hürden, medizinischen Risiken und ungleichen Zuständigkeiten zwischen Schule, Gesundheitssystem und Eingliederungshilfe.
Die Situation wird als bildungspolitisch besorgniserregend und gesellschaftlich rückschrittlich bewertet.
Zentrale Themenfelder
1. Regionale Unterschiede und Strukturen
- Einige Regionen kennen das Problem in unterschiedlichem Ausmaß.
- „Wir kennen dies in diesem Maße nicht … aber es ist auch immer eine Frage des Geldes.“
- Unterschiede bestehen zwischen Landkreisen und kreisfreien Städten bei der Finanzierung von Assistenzkräften.
- In Bayern und Baden-Württemberg zeigen sich Überlastung der Förderschulen und fehlende Plätze, während gleichzeitig inklusiver Unterricht an Kapazitätsgrenzen stößt.
2. Pflege, Gesundheit und Schulzugang
- Medizinische und pflegerische Gründe sind häufige Ursachen für ein Ruhen der Schulpflicht.
→ „Kein sicherer Transport möglich.“
→ „Kein Pflegedienst gefunden, daher keine Einschulung möglich.“ - Schulen berichten von hohen Belastungen durch chronische Erkrankungen, Beatmung, Epilepsie oder multiresistente Keime.
- Es entstehen individuelle Lösungen wie Hausunterricht, Teilbeschulung oder Kooperationen mit Palliativteams.
3. Ressourcenknappheit und Systemversagen
- Der Lehrkräftemangel verschärft die Lage:
→ „Kaum noch Ganztagsunterricht … den Kindern fehlt Unterricht, den Müttern die verlässliche Betreuung.“ - Schülerbeförderung wird zunehmend kostenpflichtig oder unzureichend organisiert, was Familien stark belastet.
- Fachkräftemangel betrifft auch Pflege, Assistenz und Therapie, wodurch der Schulbesuch faktisch verhindert wird.
4. Verwaltung, Statistik und politische Kommunikation
- Mehrere Stimmen kritisieren, dass offizielle Zahlen das Problem verschleiern:
→ „In der Schulverwaltung laufen diese Schüler einfach mit, zumindest auf dem Papier.“ - Die Senatsverwaltung Berlin habe zwar Daten erhoben, diese seien aber „fehleranfällig und missverständlich“.
- Offizielle Stellen reagieren oft verzögert oder gar nicht auf Nachfragen.
5. Eltern und gesellschaftliche Haltung
- Eltern sind teils überfordert oder resigniert, andere lehnen Schulbesuch ab, weil Bedingungen zu belastend seien.
→ „Hat mich ziemlich umgehauen, wie sich Eltern vehement gegen Schulpflicht stellen können.“ - Gleichzeitig kämpfen viele Familien vergeblich um Unterstützung bei Behörden.
- Resilienz und Protestbereitschaft seien heute geringer als früher.
6. Ethik, Profession und Perspektive
- Mehrere Schulleitungen und Pädagog:innen beklagen, dass sich die akademische Diskussion von der Praxis entfernt hat.
→ „Es gibt immer weniger Kolleginnen und Kollegen, die mit diesen Kindern überhaupt gearbeitet haben.“ - Es herrscht der Eindruck eines gesellschaftlichen Rückschritts:
→ „Gefühlt machen wir gerade viele Rollen rückwärts.“ - Dennoch betonen viele die moralische Verpflichtung, den Zugang zu Bildung auch bei schwerster Beeinträchtigung zu sichern.
Fazit
Die Rückmeldungen ergeben ein deutlich konsistentes Bild einer strukturellen Krise im Umgang mit Kindern mit komplexen Behinderungen.
Die Schulpflicht ist formell gegeben, faktisch jedoch unter bestimmten Bedingungen ausgesetzt.
Der Tenor lässt sich in einem Satz zusammenfassen:
„Das Recht auf Bildung ist nicht abgeschafft, aber durch die Kraft des Faktischen in Gefahr.“

