Oral-gustatorische Erfahrungen: Wie Geschmack Türen zu Erinnerungen öffnet
«Mit jemanden ist nicht gut Kirschen essen.»
«Das ist ganz nach meinem Geschmack.»
«In den sauren Apfel beissen.»
«Seinen / ihren Senf dazu geben.»
Diese bekannten Redewendungen und viele mehr sind in unserem Sprachgebrauch fest verankert. Sie verdeutlichen spielerisch, wie der oral-gustatorische Sinn Orientierung bietet, Erinnerungen freigibt und Geschmacksvorlieben Einfluss auf unsere Gefühle nehmen. Der Mund spielt dabei eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung.
Blicken wir aber ganz kurz auf die wichtigsten theoretischen Hintergründe:
Bereits in der Embrionalzeit ist der Mensch in der Lage diesen Sinn aktiv einzusetzen (z.B. durch Lutschen am Daumen oder durch Schlucken von Fruchtwasser). Der Mund dient aber nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern auch als Kommunikationsmedium. Die Sprache ermöglicht uns die Verständigung und Äusserung von Bedürfnissen. Die Mimik gibt dem zusätzlich einen relevanten Ausdruck. Gemeinsam mit dem Riechnerv ermöglicht es die Zunge, verschiedene Geschmäcker wahrzunehmen. Geschmacksvorlieben sind nicht statisch und entwickeln sich im Laufe des Lebens weiter. Krankheiten und auch das Alter beeinflussen die oral-gustatorische Wahrnehmung (Bienstein & Fröhlich, 2021).
Passend dazu möchte ich euch ein von mir erlebtes oral-gustatorisch orientiertes Erlebnis erzählen. Es handelt sich dabei um eine Pflegebegegnung, bei der alle Personen anonymisiert wurden:
Frau Rossi war neu im Pflegeheim eingetreten. Der Wohnwechsel bereitete ihr noch sichtlich Mühe und aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigung war es für sie auch schwer nachvollziehbar, weshalb ihre Familie nicht bei ihr blieb. Zu allem hin hatte sie eine ausgeprägte Aphasie (Sprachverlust) und zog sich auch physisch stark zurück. Sie ass kaum noch etwas und verweigerte oft das Essen. Um ihr das Einleben im Heim angenehmer zu gestalten, wurde gemeinsam mit den Angehörigen die Biografie erfasst. Frau Rossi war Italienerin und wanderte als sie 23 Jahre alt war mit ihrem Ehemann in die Schweiz aus. «Familie» war für sie das Wichtigste. Ihre schönsten Erinnerungen verband sie laut der Tochter mit Familienfeiern und üppigem italienischem Essen (Pizza, Pasta, Meeresfrüchte und Gelati). Um ihr nun ein Stück Familie und Heimat ins Heim zu bringen, wurde für sie ein individueller Speiseplan entwickelt. Dieser richtete sich anhand ihrer beschriebenen Vorlieben. Als sie das erste Mal ihr italienisches Abendessen vor sich fand, war sie so begeistert, dass sie laut sprach: «Spaghetti Carbonara!» Dazu hatte sie ein breites Lächeln im Gesicht. Sie ass zwar nicht den ganzen Teller leer, aber ihre Freude war Erfolg genug. Ihre Augen glitzerten und von da an wirkte sie beim Essen nicht mehr traurig. Was sie nicht mit Worte ausdrücken konnte, kompensierte sie mit Gesten und Lachen.
Wer sich gerne mit dem Thema Nahrungsaufnahme im Zusammenhang oral-gustatorischer Wahrnehmung noch mehr beschäftigen möchte, empfehle ich den kurzen Dokumentarfilm auf Arte mit dem Titel «Warum essen wir, was wir essen?». = Link
Dieses und viele weitere Erlebnisse haben meine basale Arbeit im Kontext der oral-gustatorischen Wahrnehmung geprägt. Somit wünsche ich euch im nächsten Monat viele «geschmacksvolle» Advents-Momente bei Glühwein und Keksen und verabschiede mich mit einem Lächeln:
Text: Rena Ruedin
Quellen:
Arte. Warum essen wir, was wir essen? Abgerufen am 22.11.2023 in https://www.youtube.com/watch?v=qtdeMQnD_wo
Bienstein & Fröhlich (2021). Basale Stimulation in der Pflege. Die Grundlagen. Hogrefe.
Bild 1: Lizenzfreie Bilder Pixabay
Bild 2: Aus Arte-Dokumentation «Warum essen wir, was wir essen?» (Minute 12.05)